Fehlt noch jemand? Frage ich ein weiteres Mal meine Kundin Emma, die sich in der letzten dreiviertel Stunde mit ihrem inneren Konflikt beschäftigt hat: jedes Mal, wenn sie zum Turnier fahren will, kommen ihr Zweifel. Wenn sie die Nennung abgibt, ist sie euphorisch, hochmotiviert und voller Vorfreude. Aber je näher der Turniertag kommt, desto drängender werden die Zweifler in ihr. Bis sie am Morgen des Turniertags ernsthaft überlegt, alles abzusagen und einfach zu Hause zu bleiben.
Wir haben den Konflikt nachgestellt in einem Schlumpftheater. Tönt kindisch? Macht nichts. Das nimmt die Ernsthaftigkeit und macht es zu einem inspirierenden Erlebnis für Emma. Einer Erlebnisreise zu ihrem inneren Team. Wir bedienen uns einer hocherfolgreichen Methode aus der Psychologie. Bisher kennen wir:
Elli, die Euphorische. Sie findet Turniere einfach nur klasse. Draussen, an der frischen Luft, mit Pferden und Freunden – egal wie es rauskommt, Elli freut sich auf den Tag.
Otto, der Optimist. Er ist überzeugt von seinen Fähigkeiten, erinnert gern an frühere Erfolge und hört nicht auf, herauszustreichen, was im Training alles super gelaufen ist. Immer positiv gestimmt glaubt er an das notwenige Tagesglück.
Siegfried, der Ehrgeizige. Siegfried will gewinnen. Für ihn gilt nur der Sieg. Er möchte zeigen, was er kann. Seine Lust, auf’s Turnier zu gehen, hängt allerdings von der Konkurrenz ab und den Chancen, am Ende des Tages ganz vorn in der Rangliste zu stehen.
Gerda, die Gelassene. Etwas esoterisch angehaucht ist sie immer auf der Suche nach Frieden, Zufriedenheit und Entspannung. Gern mahnt sie zur Ruhe und Geduld, wird aber oft übertönt von anderen Stimmen.
Agathe, die Ängstliche. Turniere sind ihr ein Greuel. Da kann so viel schiefgehen. Sie vergisst keinen Sturz, keine Verweigerung und keine heruntergefallene Stange der letzten Jahre. Jede Enttäuschung von Reiter und Pferd wird akribisch vermerkt. Agathe tendiert zur Hysterie, vor allem am Morgen des Turniertages, fährt sie zur Höchstform auf.
Norbert, der Nörgler. Er würde am liebsten zu Hause auf dem Sofa liegen, mit niemandem ein Wort wechseln und findet Bewegung draussen – bei jedem Wetter – einfach nur widerlich.
Und so nimmt in unserer Sitzung die typische Diskussion in Emma’s Kopf am Beginn des Turniertages ihren Lauf. Elli und Otto auf der einen Seite, wollen zum Turnierplatz. Norbert will zu Hause bleiben, weil es ganz sicher regnen wird und Agathe wird mal wieder hysterisch in Erinnerung an die Blamage vor einem Jahr, als das Pferd verweigert hat und Emma den Parcours zu Fuss verlassen hat. Diesmal wird sie flankiert von Siegfried, der die Konkurrenz als zu stark einschätzt und Angst hat, dass sie nicht gewinnen können. Gerda hört sich die ganze Sache an, mahnt zur Ruhe und Besonnenheit, aber niemand hört ihr zu.
Emma identifiziert nach und nach die Mitglieder ihres Teams, hinterfragt deren Motivation, Ziele und Sorgen. Aber irgendwie schreien alle durcheinander. Immerhin kennt sie sie jetzt.
Wieder meine Frage: «Fehlt noch jemand?»
Auf einmal erhellt sich ihr Gesicht. Sie steht auf, lächelt, ja – strahlt. «Na klar!» ruft sie aus. «Der Tätschmeister!!!» Das bin ja ich!
Das ist der durchschlagende Moment. Emma erfindet «Emma, die Chefin» Wir führen die Teamdiskussion noch einmal. Vorher teilt sie den Teammitgliedern ihre Positionen im Sitzungszimmer zu. Sie beginnt mit den Worten: «Okay, Leute, wir stehen kurz vor unserem Turnier. Lasst uns unsere Strategie planen und schauen, was jeder zu einem gelungenen Tag beitragen kann!»
Dieses Mal kommt jeder zu Wort. Jeder hört den anderen zu. Jeder bekommt gleich viel Redezeit. Gerda bekommt eine tragende Rolle und wird zur Mentaltrainerin des Teams ernannt für den Tag.
Am Ende der Sitzung gehen Emma und ihr Team zufrieden nach Hause, nicht ohne sich vorher noch gemeinsam einen grossen Eisbecher zu genehmigen. Am nächsten Sonntagabend bekomme ich ein WhatsApp: «Liebe Christine. Es war fantastisch heute in Gossau. Mein Team war dabei. Alle haben mitgemacht – und wir freuen uns auf das nächste Turnier. Hat sogar Norbert gesagt 😊»