Gestatten, ich bin ein Perfektionist

Ich könnte ein ganzes Buch zum Thema Perfektionismus schreiben – ganz einfach, weil ich da aus dem Vollen schöpfen kann. Denn ich bin selbst eine Perfektionistin. Wobei, ich bin überzeugt, bei mir ist der Perfektionist nur teilweise angeboren, mehr davon ist anerzogen. Warum? Weil ich eher nach meinem Vater schlage, der solange ich denken kann, permanent von meiner Mutter kritisiert wurde, dass er alles falsch macht. Ist glaub ich ein Charakterzug, den man ja oft Frauen generell nachsagt. Es gibt aber auch ausgeprägte Perfektionisten unter Männern.

Ich gehöre zu einer anderen Art Perfektionist als meine Mutter. Zumindest jetzt, nachdem ich den mir angeborenen von dem mir anerzogenen Perfektionisten habe separieren können. War ein langer Kampf gebe ich zu, und der ist noch nicht beendet. Fragen sie meinen Mann.

Eigentlich ist so ein bisschen Perfektionismus ja gar nicht schlecht. Denn der motiviert uns, was immer wir machen, gut zu machen. Das nennt sich dann Gewissenhaftigkeit. Dann, wenn es noch nicht wehtut. Aber wo Gewissenhaftigkeit aufhört, fängt Perfektionismus an und der tut weh: einem selbst und/oder auch anderen. Sitzt wie ein Stachel im Allerwertesten, und hält den Besitzer davon ab, sich mal ganz gemütlich auf dem Sofa zu räkeln und die Seele baumeln zu lassen. Irgendwo ist immer was, was ihn stört an sich selbst oder an seinem Umfeld, das es zu „optimieren“ gilt.

Aber nochmal zurück zu den verschiedenen Arten. Die Wissenschaft schlägt derer drei vor. Sie können selbst entscheiden, welcher Stachel sie plagt:

  1. Selbstorientierter Perfektionismus (SOP): bezieht sich nur auf die Person selbst. Sie ist nie mit ihren eigenen Leistungen zufrieden, und selbst wenn sie ihre hochgesteckten Ziele erreicht, hätte sie den Weg dahin schneller/schöner/besser gestalten können.
    Diese Personen sind oft hocherfolgreich im Leben, da sie eine intrinsische Motivation haben. Sie werden aber von aussen oft auch als «zu perfekt» angesehen.
  2. Von-aussen-auferlegter Perfektionismus (AOP): die innere Überzeugung, dass andere erwarten, man müsste perfekt sein. Diese Person möchte primär anderen Menschen gefallen. Sie meint zu wissen, dass ihr Umfeld extreme Erwartungen an sie hat und ist permanent auf der Jagd, diesen unausgesprochenen Erwartungen entsprechen zu wollen. Oft werden diese Personen vom Umfeld ausgenutzt, denn sie vergessen in ihrem Wunsch, es anderen «recht» machen zu wollen, ihre eigenen Bedürfnisse.
  3. Fremd-orientierter Perfektionismus (FOP): bezieht sich auf andere. Im Gegensatz zu den ersten beiden Arten projiziert diese Person ihre überhöhten Erwartungen auf andere und macht ihr Glück an den Handlungen anderer fest. Im Gegensatz zum SOP muss diese Person gar nicht so hohe Ansprüche ans Umfeld haben. Allein, dass sie sie hat, führt schon zum Unglück. Denn die anderen wissen meist nichts von diesen Ansprüchen und können sie daher auch nicht erfüllen. Diese Art Perfektionist ist nicht nur permanent unzufrieden mit allen anderen, auch alle anderen in seinem Umfeld macht er damit unglücklich.

Alle drei befinden sich in einer Negativspirale von zu hohen Erwartungen und ungenügender Leistung. Gehört eine Person nur einer Art an, führt das allein schon zu permanenter Frustration und Stress. Wenn aber eine Person mehrere Arten von Perfektionismus in sich vereint – und das tun viele – potenziert sich das Un-Glück und die Wahrscheinlichkeit, sich selbst in einen Burn-Out oder sein Umfeld zur Weissglut zu treiben. Oder beides.

Es lohnt sich aber, diese Unterschiede zu kennen und sich selbst zu reflektieren, denn erst dann können sie an die Bewältigung gehen. Zudem sind die Lösungsansätze unterschiedlich je nach Art bzw. Kombination des Perfektionismus. Aber alle führen über

  • konsequente Auseinandersetzung mit sich, seinen Werten und denen seiner Umwelt
  • die Akzeptanz und Wertschätzung der Unvollkommenheit
  • die Entwicklung von mehr Toleranz sich und anderen gegenüber
  • die Neukalibrierung von Erwartungen

Der Weg raus aus dem Dilemma des Perfektionismus ist meist lang, aber er lohnt sich, weil so viele Glücks- und Freiheitsgefühle damit verbunden sind, wenn sie den bzw. die Stachel nicht mehr spüren. Meistens ist er wie bei mir durch Prägung in der Kindheit entstanden – was nicht bedeutet, dass man ihn nicht loswerden kann. Aber alles, was wir in der Kindheit tief in unser Hirn eingebrannt haben, braucht Zeit und Selbstreflektion sowie innere Dialoge, um sich zu ändern. Aber es ist änderbar und je früher sie anfangen, desto einfacher wird es!

Ich habe es auch geschafft, meine Perfektions-Dreierkombi aufzubrechen. Heute bin ich nur noch selektiv perfektionistisch. Es ist ein ganz anderes Leben. Wie eine Hose aus Samt – ohne Stachel 🙂

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