Heute war ich mal wieder auf dem Friedhof von Zollikon. Nicht um jemanden zu besuchen, sondern weil es für mich ein Hof des Friedens ist – wie der Name impliziert. Dass dort Verstorbene ihre letzte Ruhestätte gefunden haben, stört mich gar nicht. Nach den letzten 13 Tagen des Krieges in der Ukraine brauchte ich diese Ruhe, den dieser Ort auf mich ausstrahlt. Auch an einem Nachmittag bei schönstem Wetter war ich dort völlig allein.
Es ist eher eine Parkanlage mit Bäumen, Brunnen und Blumenbeeten, die alle noch im Winterschlaf liegen. Einzelne Stühle und Bänke laden zum Verweilen ein. Man hört nur die Vögel zwitschern. Ansonsten ist es völlig still.
Natürlich musste ich an die vielen Menschen in der Ukraine denken, die gerade den Tod fürchten müssen. Ihn womöglich auch «erleben» werden – und nicht die Freiheit haben, an so einem wunderschönen Ort begraben zu werden wie dem Friedhof von Zollikon.
Die Welt schaut auf die Ukraine. Mit Horror. Mit Entsetzen. Mit Ungläubigkeit über so viel Brutalität, Rücksichtslosigkeit und Machtgier eines einzelnen Mannes.
Das, was die Menschen in der Ukraine jetzt erleben, haben unsere Eltern und Grosseltern schon mal erlebt. Es ist noch gar nicht lange her, da fielen auch hier Bomben auf Städte, ebenso motiviert durch den Wahnsinn eines einzelnen machtgierigen Diktators. Nur ist es lang genug her, dass es für die allermeisten von uns – bis jetzt – ein Horror vergangener Zeiten schien, der heute nicht mehr möglich sein kann. Freiheit und Demokratie sind für uns selbstverständlich. Weit gefehlt – wie wir nun feststellen. Putin’s Krieg hat sich über viele Jahre angebahnt, ohne dass wir es erkannt hätten oder hätten wahrhaben wollen.
Klar scheint im Moment – es ist Krieg in Europa, und jeder schaut hin. Er ist erst am Anfang, und es wird schlimmer, bevor es wieder besser wird. Der Horror im täglichen Fernsehen geniesst noch die Vorspeise.
Längerfristig wird diese mittlerweile globale Krise jeden einzelnen treffen, egal ob wir die Nachrichten verfolgen oder nicht. Es hat schon begonnen. Der Liter Benzin ist innert weniger Tage über die magische Grenze von 2 Euro – oder Franken gesprungen. Energie, egal in welcher Form, wird teurer. Das trifft nicht nur die Autofahrer, sondern jeden einzelnen. Wir hatten gedacht, dass Corona endlich vorbei ist und wir wieder die Welt erobern können. Vielleicht können wir das, aber zu deutlich höheren Kosten und mit noch mehr Aufwand als vorher.
Was kann der Einzelne tun?
Jeder findet für sich heraus, wie er mit der Situation umgeht. Der eine schaltet die Nachrichten einfach ab, damit sie sein Angst- und Sorgengedächtnis nicht weiter füttern. Der andere spendet Geld, geht auf Demos, sammelt und verschickt Sachspenden oder bietet sein Haus oder Ferienwohnung den Flüchtenden an. Gelebte Solidarität und Hilfsbereitschaft.
Aber längerfristig gilt für uns alle: wir werden die Auswirkungen der Sanktionen auf Putin und sein Gefolge am eigenen Leib erleben und mittragen müssen. Den Gürtel enger schnallen. Dabei unsere eigenen Ansichten hinterfragen und radikal ändern. Auf einmal den Bau von Windenergieanlagen zulassen, wenn wir vor 2 Wochen noch dagegen auf die Strasse gegangen wären. Den Kauf von Kampfjets befürworten, wenn das vor Tagen noch undenkbar gewesen wäre.
Putin ist grausam – aber wahrscheinlich brauchte es so etwas Furchtbares wie das, was jetzt passiert. Damit wir endlich mal aufwachen nur neuen globalen Realität. Rauskommen aus einer gemütlichen Lethargie, in die wir alle verfallen waren. Die der Selbstgefälligkeit innerhalb unserer Komfortzone. Des Negierens, dass uns das, was in anderen Teilen der Welt passiert, angehen könnte. Des Sich-Beschwerens über den Krach des Nachbarn.
Ich bin aufgewacht. Auf dem Friedhof in Zollikon. Und realisiere nicht nur oberflächlich, sondern ganz tief im Inneren: Frieden, Freiheit und Demokratie sind absolut nicht selbstverständlich und kommen nicht umsonst. Es gilt, sie zu wertschätzen, mit allen Mitteln zu erhalten und wenn nötig zu verteidigen – auch langfristig. Daran, ob wir das auch dann noch durchhalten, wenn der Horror beim Dessert ist und wir uns schon wieder anderen Neuigkeiten zugewandt haben, wird sich zeigen, wie ernst es uns damit wirklich ist.